Angedacht

Mehr Miteinander wagen

Liebe Leserin, lieber Leser,
Vergänglichkeit? Das Thema ist unbeliebt! Viele Menschen haben zwar schon gut geregelt, wie ihre Beerdigung von statten gehen soll, haben eine Grabstelle gekauft und ihr Testament gemacht. »Dann habe ich meinen Frieden, wenn ich tot bin« – so sagte mal ein älterer Herr zu mir.


Das aber, was vor dem Sterben auf uns zukommen könnte, blenden wir lieber aus. Das Abnehmen der geistigen und körperlichen Kräfte und damit die Aussicht, irgendwann nicht mehr selbständig leben zu können, macht vielen große Angst. Man sieht es bei anderen; man spürt es an sich selbst, wenn man nach einer Krankheit nicht mehr wieder so fit wird, wie man früher mal war; man hört in den Nachrichten immer wieder vom Pflegenotstand. Wie wird es sein, wenn ich selbst irgendwann Pflege brauche? Nein danke, das ist mir unheimlich. Damit will ich mich lieber gar nicht auseinandersetzen. Ich hoffe, ich sterbe rechtzeitig schlafend in meinem Bett.


Als Seelsorgerin bin ich oft hinund hergerissen. Einerseits ärgert mich das Verdrängen, das mir an so vielen Stellen begegnet. Wer verdrängt, kann seine Zukunft nicht gestalten, nicht Vorsorge treffen. Andererseits tut der oder die Betroffene mir leid. Der Buchtitel von Joachim Fuchsberger »Altwerden ist nichts für Feiglinge« stimmt schon irgendwie – sofern man nicht ganz und gar der Typ »sonniges Gemüt« ist, werden die Zeiten im Alter unweigerlich härter.
Was hilft? Netzwerke bilden und stärken!


Jetzt andere unterstützen, die Hilfe brauchen und wahrnehmen, wie sich das anfühlt. Jetzt lernen, selbst Hilfe anzunehmen, auch »fremde« Hilfe! Die meisten Menschen freuen sich doch, wenn sie etwas für andere tun können. Wenn durch gemeinsames Tragen von Lasten Beziehung und Nähe entsteht – eventuell sogar mit Menschen, bei denen ich das nie für möglich gehalten hätte.


Gottes Zuspruch »ich will euch tragen, bis ihr grau werdet« (Jesaja 46,4) – der wird Wirklichkeit durch unsere Mitmenschen, durch Freundlichkeit und Nächstenliebe derer, die uns umgeben. In der Familie, in der Nachbarschaft, in der Gemeinde.


Ja, das ist wohl die Herausforderung und die Aufgabe des Älterwerdens: Nicht das übermäßige Trainieren im Fitnessstudio, um mir selbst und anderen zu beweisen, wie fit ich noch bin. Sondern das zu lernen: Gemeinsam mit anderen für einander zu sorgen, um Hilfe zu bitten, Hilfe anzunehmen und eigene Schwäche zu ertragen. Und wie schön sind die Erfahrungen, die wir dabei machen können, wenn wir der Freundlichkeit der Menschen vertrauen lernen! Möglicherweise ist das sogar einfacher mit Menschen, die gerade nicht zur Familie gehören. Wo sich keine emotional aufgeladene Erwartungshaltung darein mischt, wo kein Gefühl belastender Abhängigkeiten im Wege steht, da kann man oft freier miteinander umgehen als im engsten Familienkreis. Einen Versuch ist es wert!


Jedenfalls – mehr Miteinander wagen! Vertrauen aufbauen und pflegen. Dem anderen Freundlichkeit zutrauen. Dann verliert die Vergänglichkeit ihre Schrecken und das Leben eröffnet uns neue Horizonte. Nur Mut!


Das meint Ihre Pastorin
Annegret Mayr

Pfarrerin Annegret Mayr